Academia im Gespräch mit Prof. i.R. Dr. Hans Joachim Teichler
Sie befassen sich in Ihrem neuen Buch mit der Internationalen Sportpolitik im Dritten Reich. Können Sie kurz erklären, wie die Olympischen Spiele 1936 nach Berlin kamen?
Nach dem guten Abschneiden der deutschen Sportler bei den Olympischen Spielen 1928 in Amsterdam (2. Platz in der inoffiziellen Nationenwertung) entschloss sich das deutsche IOC-Mitglied Theodor Lewald eine Bewerbung für Berlin 1936 abzugeben und bot an den nächsten IOC-Kongress 1930 in Berlin durchzuführen. Beeindruckt vom glänzenden Empfang in Berlin (Unterbringung im Adlon, Tagung im Preußischen Herrenhaus) und von der Berliner Sportinfrastruktur votierte das IOC 1931 in einer schriftlichen Abstimmung (der Kongress 1931 war schwach besucht) mit 43 Stimmen für Berlin, wo schon 1916 Olympische Spiele stattfinden sollten. 16 Stimmen fielen auf Barcelona, bei 8 Enthaltungen.
Die Spiele wurden also lange vor der „Machtergreifung“ Hitlers an Berlin vergeben. Hatte der Völkische Beobachter 1928 die Olympischen Spiele der Neuzeit noch als „rasseloses Verbrechen gleich der Völkerbunds Idee“ diffamiert, forderte das gleiche Blatt 1932 „nur noch“ den „Ausschluss der Farbigen“ von den Olympischen Spielen Berlin 1936.
Warum hat sich der IOC dazu entschieden, trotz der Nürnberger Gesetze von 1935, dem Bekanntwerdenden der Diskriminierung und Verfolgung von u.a. Juden und internationalen Protesten gegen die Durchführung der Spiele im Deutschen Reich, diese dennoch stattfinden zu lassen?
Das IOC verfolgte zunächst das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des Deutschen Reiches und gab sich aber dann, als die Proteste jüdischer, kirchlicher und gewerkschaftlicher Kreise (vor allem in den USA) immer lauter wurden, mit der deutschen Zusicherung zufrieden, es könnten – bei sportlicher Qualifikation – auch Juden in der deutschen Olympiamannschaft starten. Und obwohl die Jüdin Gretel Bergmann 1936 mit einer medaillenreifen Leistung im Hochsprung glänzte, ließ man sie wegen angeblich unsteter Leistungen nicht starten. Rudi Ball (Eishockey) und Helene Mayer (Fechten), die als „Alibijuden“ starten durften, hatten jüdische Väter aber keine jüdische Mutter, und waren somit nach jüdischem Gesetz keine richtigen Juden. Auch praktizierten sie die Religion ihrer Väter nicht.
Stand das Deutsche Reich und das Bekanntwerden seiner Politik nicht im völligen Widerspruch zu der Olympischen Idee?
Prima vista muß man dem amerikanischen Autor George Hirthler, der eine Biografie über den Begründer der modernen Olympischen Spiele geschrieben hat, recht geben. Er behauptet, ideologisch sei de Coubertin so weit von Hitler entfernt gewesen, wie es nur sein könne. «Die Philosophie des Olympismus sei die Antithese zum Faschismus», sagt er und verweist darauf, dass de Coubertin über den Sport «in Freundschaft und Friede die Welt zusammenbringen wollte». So liest man das in der NZZ. Sie fragen daher zu Recht, wieso lässt man dann Olympische Spiele in der „Antithese“ stattfinden?
Das IOC und der Autor Hirthler verbreiten eine geschönte, unhistorische Interpretation der Lehre Coubertins. Ein Motiv zur Wiederbegründung der antiken Olympischen Spiele war für Coubertin, der unter der französischen Niederlage im Krieg von 1870/71 litt, „rebroncer la France“. Er wollte der französischen Jugend den Stachel des internationalen Wettkampfes ins träge Fleisch jagen. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1931 (Delphi und Olympia) reduzierte Coubertin den Olympismus auf die „die Religion des Muskels“ und „die Leidenschaft der körperlichen Anstrengung“. Damit wurde der Neo-Olympismus passfähig für jegliche Ideologie, auch die des Nationalsozialismus. Beeindruckt von den deutschen Anstrengungen zur perfekten Ausrichtung der Spiele gelangte Coubertin offensichtlich schon früher als bisher bekannt zu einer positiven Beurteilung Hitlers. Er gehörte damit zu jener Mehrheit im IOC und in der internationalen bürgerlichen Sportwelt, die sich den Argumenten
der Boykottanhänger und den Appellen der zahlreichen internationalen Ossietzky-Komitees verschloss und stattdessen den Friedensbeteuerungen des offiziellen Deutschland Glauben schenkte, dabei aber die antijüdische Rassenpolitik des Nationalsozialismus negierte. Nach seiner Meinung wurden die kritischen Pressestimmen zu Berlin 1936 durch Bestechungen erzeugt. Coubertin kritisierte nicht – er kooperierte. Er regte kurz vor seinem Tod sogar die Gründung eines Internationalen Olympischen Institutes in Deutschland an. Übertroffen wurde die Naivität Coubertins nur noch vom IOC, das im Juni 1939 in London die Olympischen Winterspiele 1940 wegen eines Streits mit dem Internationalen Ski-Verband (FIS) von St. Moritz nach Garmisch-Partenkirchen verlegte.
Zwei Monate zuvor hatten deutsche Truppen im März 1939 Prag besetzt und damit das Münchener Abkommen von 1938 gebrochen; acht Monate zuvor hatte das Novemberpogrom 1938 den verbrecherischen Charakter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bewiesen und der jüdischen Sportbewegung, um deren Fortbestand im Vorfeld von Berlin 1936 so stark gerungen worden war, ein Ende bereitet.
Diese politische Blindheit kann nur mit dem vorherrschenden Anti-Bolschewismus des IOC erklärt werden, das in Deutschland ein Bollwerk gegen die Sowjetunion und den Kommunismus ansah.